Versetz Dich in Ihre Lage
Vor kurzem hatte ich wieder eine dieser typischen Begegnungen an einem Serviceschalter.
Es war auf der Post, wo ich mein Bankkonto habe. Ich habe die Frau, die mir die Briefmarken verkaufte, nach einer Information zu meinem Konto gefragt, und sie wußte die Antwort nicht. Sie meinte einfach, ich solle doch die hotline anrufen. Sie erklärte nicht, warum sie mir nicht helfen konnte und sie entschuldigte sich nicht, dass sie die Antwort nicht wusste. Mein Blutdruck stieg. Ich fragte noch einmal und so rief sie selber die hotline an. Sie stellte mir keine Fragen um zu verstehen, was ich genau brauchte, so dass die Information, die sie von der hotline erhielt, unvollständig war. Freundlich aber bestimmt sagte ich, dass ich mehr Informationen benötige. Sie telefonierte ein weiteres Mal mit der hotline....
Als wir fertig waren, bat ich sie um die Quittung für die gekauften Briefmarken. „Die habe ich Ihnen gegeben,“ sagte sie. Ich bat sie, nachzusehen. Sie hatte mir die Quittung nicht gegeben. Sie druckte sie aus. Es gab keine Entschuldigung, kein freundliches “Auf Wiedersehen“. Ich bedankte mich.
Das sind die Situationen, in denen man schnell über Menschen urteilt. Die Frau ist unfreundlich, sie ist inkompetent. Die Frau hat den falschen Job. Kann sein, dass da was dran ist.
Aber das hilft nicht weiter. Was hilft, ist, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen.
Vielleicht hatte sie einen schlechten Tag, oder vor mir einen schwierigen Kunden. Ja aber – könnte man sagen – entschuldigt das ihre Unfreundlichkeit mit einem neuen Kunden?
Versuchen wir mal einen anderen Blick. Sie arbeitet am Schalter der Post. Ihr hauptsächlicher Job ist es, Briefmarken zu verkaufen und Briefe und Päckchen anzunehmen. Es könnte sein, dass ich die Sache hier etwas vereinfache, aber nehmen wir an, es ist so.
Sie ist auf keinen Fall eine ausgebildete Bankerin. Und dann komme ich mit meiner Frage zu einer internationalen Transaktion, einen Vorgang, den es in dieser kleinen vorstädtischen Bankfiliale bestimmt noch nie gegeben hat. Ihr Arbeitgeber hat sie wahrscheinlich nicht auf solche Fragen vorbereitet. Wahrscheinlich hatte sie auch kein Kommunikationstraining, aber lassen wir das mal beiseite. Und dann kommt dieser Mann und will eine Antwort von ihr, die sie nicht geben kann. Wie fühlt sie sich in dem Moment?
Ich war einmal mit einem Kollegen in einer Fünf-Millionen-Stadt in China. Es war dort nicht ungewöhnlich, dass die Taxifahrer die gewünschten Ziele, oft die Universität am Rand der Stadt, nicht kannten. Sie hielten immer wieder an und fragten von Fenster zu Fenster andere Taxifahrer nach dem Weg. Mein Kollege war vor mir schon einmal in der Stadt und hatte mich gewarnt, dass die Taxifahrer „dumm“ seien. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht haben sie einfach nicht das gleiche Training und die schweren Prüfungen wie Taxifahrer in Deutschland. Vielleicht geht es um Ausbildungsstandards, was etwas ganz anderes ist, als „dumm“ zu sein. Vielleicht wächst die Stadt auch ständig und es ist schwer, immer auf dem Laufenden zu sein, immerhin war die Universität ein neuer Campus in einem Vorort. Wer weiß?
Ich fliege oft. Jedes Mal gibt es die ähnlichen Sicherheitschecks. Jacke in die Schale, Schlüssel raus, Telefon, Münzen – alles aus den Hosentaschen raus. Gürtel abnehmen. Computer aus der Tasche und Kosmetikartikel in eine durchsichtige Plastiktüte. Ich bin mittlerweile sehr geübt darin, und das Sicherheitspersonal muss mich selten an etwas erinnern. Fast nie werde ich angehalten und durchsucht, weil es, wenn ich durch die Schleuse gehe, nie piept.
Ich freue mich, wenn mich das Sicherheitspersonal anlächelt. Den ganzen Tag führen sie dieselbe Prozedur mit gestressten Reisenden, von denen nicht wenige den Ablauf nicht kennen, durch. Sie müssen Menschen um Dinge bitten, die diese nicht angenehm finden, wie zum Beispiel Schmuck abzunehmen oder Schuhe auszuziehen. Sie müssen immer wieder Fremde anfassen. Manchmal kochen in solchen Situationen Emotionen hoch. Ich vermute, das Sicherheitspersonal ist nicht besonders gut bezahlt. Ihr Job ist notwendig, aber für einen Außenstehenden wie mich sieht das nicht nach Vergnügen aus.
Ich vermute, sie lächeln mich an, weil ich sie anlächele oder zumindest versuche, freundlich zu sein. Weil ich mich in ihre Lage versetze. Meine Spekulationen können alle falsch sein. Aber zumindest machen sie das Miteinander reibungsloser und freundlicher.
Greg Bond